Raumgreifend

21.10. bis 25.11.2012

Ingo Fröhlich
Zeichnungen und Stempeldrucke
Constantin Jaxy
Bilder, Drucke, Zeichnungen, Objekte und Wandobjekte
Herbert Linden
Holzplastik
Ulrike Seyboth
Malerei auf Leinwand und Papier

 

 

Erneut hat die HLP Galerie in ihrer jüngsten Ausstellung Künstler kombiniert, deren Statements zu unserer Realität sehr verschieden, um nicht zu sagen diamentral konträr sind.
Der Ausstellungstitel ”Raumgreifend” als gemeinsamer Nen­ner der Kunst von Constantin Jaxy, Ulrike Seyboth, Ingo Fröhlich und Herbert Linden kann dabei durchaus als Auf­forderung verstanden werden, sich der unterschiedlichen Positionen zu vergewissern und ihnen so auf die Spur zu kommen.
Der Kunstkritiker und Publizist Dr. Rainer Beßling hat Constantin Jaxy, Jahrgang 1957, einmal mit einem Ar­chä­ologen verglichen – seine Grabungen würden sich zu einer ‚Archäologie der industriellen Welt’ bündeln.*1 Richtig ist, dass uns Jaxy in seiner Kunst ausschließlich Objekte aus unserem technischen Alltag vorführt, ganz gleich ob es sich um einen Baukran, eine Brücke, eine Wäscheklammer oder einen Ventilator handelt. Nur, anders als ein Archäologe, und anders auch als andere Künstler der Moderne, die ihre Bild­gegenstände ebenfalls der Technikwelt entlehnen, führt Jaxy diese von ihm ausgegrabenen Dinge nicht einfach vor, son­dern zeigt sie in und aus einer ganz neuen Perspektive.
Der Besucher der Ausstellung hat Gelegenheit, dies bei etwa drei Dutzend ausgestellten Arbeiten des Künstlers zu veri­fizieren: bei seinen bis zu fünf Meter langen skizzenhaften Malereien auf Papier und Holz, bei Skulpturen aus Stahl, Wandobjekten aus schwarzem Karton, Cardboard-Prints auf Büttenpapier und auch bei seinen Sichtkästen.
Was Jaxy an seinen Trou­vaillen der vielfältigen All­tags­realität unserer Welt fas­zi­niert, ganz gleich ob er sie zu Hause, in einer europäischen Metropole, in einem Hafen­revier oder einer Megacity Asiens entdeckt, ist die jedem industriellen Ding innewohnende Kon­struktion bzw. Tektonik im Falle von Architektur. Es ist eben jenes ’Zusammen-ge­schichtete’, jener Aufbau, der etwas zusammenhält oder funktionieren lässt, ob es sich um einen Eierschneider, einen Kran oder die Unter­konstruktion einer konkreten Brücke handelt, die Jaxy schon fesselte, als er als Junge die tech­nische Welt bei seinen Streifzügen durch den Bremer Hafens entdeckte. In Skizzen­büchern und mit der Kamera hält er sie alle fest, um dann das für ihn Wesentliche in abstrakter Form und stets in Schwarz-Weiß und Co auf dem Papier zu bannen oder in einem dreidimensionalen schwarzen Papierobjekt festzuhalten. Andere Werke entstehen aufgrund von alten Kon­struk­tions­plänen oder Werkbüchern. Doch Jaxy ist nicht etwa an der Funktion, sondern an der Form interessiert. Wie es Rainer Beßling richtig dargestellt hat, ist es das im ei­gent­lich Wortsinn ’Merk-würdige’, das die Produkte unserer tech­ni­schen Umwelt für den Künstler attraktiv machen. Jaxy lehrt uns einen neuen Blick auf sie. Bei seinen Unteransichten von Berliner Brücken etwa läst sein skizzenhafter Strich das Sta­tische einer Konstruktion dynamisch erscheinen und schafft Räume. Perspektivische Veränderungen und auch der Einbezug des Schattenwurfs bei der Darstellung ganz kon­kre­ter Objekte lassen den Gegenstand auf Anhieb nicht er­ken­nen, geben dem Werk einen poetischen Mehrwert, den Jaxy eben nicht zu einem Dokumentaristen unserer Arbeitswelt, son­dern einem vergleichsweise einzigartigen Künstler machen.
Seine gezeichneten oder montierten Nahaufnahmen von Kon­struk­tions­teilen sind raumgreifend, genauso wie die für diese Ausstellung etwas verkürzte, im Original 19 m lange Holz­skulp­tur von Herbert Linden, die das Faszinosum Kon­struk­tion noch einmal exemplarisch vor Augen führt.

Der 1970 in der ehemaligen DDR geborene Künstlerin Ulrike Seyboth, die abwechselnd in Berlin und Frankreich lebt, geht es nach eigenem Bekunden um ”das Sein in Kunst und Le­ben”*2. Wie sie in einem Zwiegespräch mit Matthias Ruff, bil­den­der Künstler und Leiter des Forums für Integrale Theorie und Praxis, darstellt, verdeutliche ihre Malerei ihr ”Erfahren von Sein und Werden.“ (a.a.O.) Ihre abstrakten ex­pressiven Bilder in jeweils sorgfältig komponierter Farb­palette entsprechen dieser Selbstvergewisserung, os­zil­lieren zwischen ruhigen, stehenden Farbflächen und agilen, mit leichter Hand skizzierten oder getupften Formen oder Strichen bis hin zu beinah aggressiven, aufgetürmten Farb­ballen. Sie alle strukturieren und erobern den Bildraum, sind raumgreifend. Zu Beginn einer Arbeit weiß Seyboth noch nicht, wohin sie der Schaffensprozess führt. Sie ist für sie beendet, wenn sie dabei auf etwas gestoßen ist und dieses Moment als etwas, was immer schon da war, wiedererkennt.
Dem Betrachter geht es wenig anders. Zwar verweisen die meist französischen Titel zum großen Teil auf einen sehr konkreten Sachverhalt, wie etwa: ”Justine – après de Sade” oder ”Diptyque“ – La Valse de Lucy”, doch es sind vielleicht gerade diese Anstöße, die beim Betrachten ein feines Ge­flecht von Emotionen und Stimmungen hervorrufen, die schwer zu konkretisieren, jedoch ausbalanciert sind wie das Bild selbst.
Es nimmt nicht Wunder, dass sich die Malerin Seyboth und der Zeichner Ingo Fröhlich (Jahrgang 1966) gefunden haben und künstlerisch kooperieren. Nach früher Schreinerlehre und Studium der Bildhauerei und schließlich Verlust seines linken Augenlichts wurde das Zeichnen Mittelpunkt und Antrieb seines künstlerischen Schaffens und ist es schon seit langen Jahren. Dieses einfache und direkte Ausdrucksmittel ist für ihn ”Aufmerksamkeit für Handlung, Umraum, Zeit und Geschwindigkeit”.
Es ist der Prozess des Zeichnens selbst, den Fröhlich the­ma­ti­siert, vor allem mit dem Bleistift, manchmal auch mit Stem­pel oder Schablonen. Ihn interessiert nicht, wie es Nanne Meyer, Professorin für visuelle Kommunikation, Zeich­nen und Illustration an der Kunsthochschule Berlin-Weißen­see, darstellte, etwas zeichnerisch nachzuvollziehen, was schon da ist, ”sondern das, was man (noch) nicht sehen kann, was erst beim Zeichnen entsteht und damit erst Teil der sicht­baren Welt wird.”*3 Gipfelt bei Ulrike Seyboth die Selbstvergewisserung im Prozess des Malens im Akt der Wiedererkennung, so geschieht die Selbstvergewisserung bei Fröhlich beim lebendigen Prozess des Zeichnens immer wieder neu. Seien Zeichnungen ereignen sich im Raum, an­ge­fan­gen von dem begrenzten Raum einer Postkarte über riesige Papierflächen bis zu ganzen Wänden, Böden und Räu­men, die Fröhlich ‚raumgreifend’ mit seiner Zeichnerei überzieht. Der Künstler hat ein riesiges Archiv an Zeich­nun­gen, die seine Vielfalt in der Wiederholung von Li­nien­füh­rung und Mustern, die Differenziertheit von scheinbar Glei­chem dokumentiert. ”Zeichnen erklärt mir die Welt“ (a.a.O.), beschreibt der Künstler seine Obsession. Die Kom­bi­nation der Malerei von Ulrike Seyboth mit den Zeichnungen von Ingo Fröhlich, wie es die Ausstellung in der HLP Galerie vorführt, ist spannend, trifft doch immer wieder ein aus ei­nem dynamischen Prozess hervorgegangenes, jetzt be­grenz­tes und als Standbild präsentiertes, monochromes Er­geb­nis auf die anhaltende wenn auch ausbalancierte Dynamik eines farbenfrohen Ölbilds von Ulrike Seyboth. ”Kunst eröffnet Räume, die über das hinausgehen, was auf dem Bildraum sichtbar ist”, steht im Vorwort ihrer gemeinsamen Broschüre „Die Sinnlichkeit des Sehens“*4. ”Den Künstlern ist die Frage und Suche nach dem Dazwischen, dem Dahinter existentiell.“ (a.a.O., S.2)


*1 Laudatio im BLG-Forum Überseestadt Bremen, 2007
*2 Ateliergespräch, Ulrike Seyboth und Matthias Ruff, in :
Ulrike Seyboth, c’est la vie – dispositionen, Hrsg. Galerie
LÄKEMAKER Johannes Zielke und Ulrike Seyboth, Berlin 2009 S. 24
*3 Nanne Meyer , Taktstriche – Zu den Zeichnungen von
Ingo Fröhlich, Text zu Ingo Fröhlichs Katalogbeitrag
zum Arbeitsstipendium des Berliner Senats 2008/9
*4 Broschüre von Ulrike Seyboth und Ingo Fröhlich,
Berlin 2012

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